Wut, nichts als Wut

Es war kurz nach der Wende. Das Land krempelte sich um. Alte Strukturen gingen, neue kamen hinzu, es wendete sich unter dem Himmel in Halle-Neustadt an jeder Ecke. Manchmal ganz leise, manchmal auch ziemlich laut. Es war die Zeit, als man Direktoren aus dem Kollegium wählte. So auch Ingo, ein schlaksiger Lehrer, der einen guten Ruf hatte, dem man aber beim ersten Hinsehen eher einen Naturburschen mit Woodstockfeeling ansah. Wie dem auch sei, man machte ihn zum Direktor der Heine Schule. Wir kamen beide gut aus und er förderte meinen Minizoo und auch den Schulclub, der sich im Keller befand und den ich jede Pause und am Nachmittag bis 16.00 Uhr betrieb. Ab und an war er Gast da unten. Wir hatten dort eine Schülerbar, einen Tischtennisraum, einen Kraftsportraum und es trafen sich dort Schüler aus unserer und anderen Schulen. 4 Mädchen und zwei Jungen waren jeden Tag als feste Schulclubmitglieder mit dabei und halfen beim Verkauf oder der Betreuung in den Sporträumen. Das alles gibt es heute nicht mehr, der Schulclub ist heute einem Pausenverkauf gewichen. Alles ist in der Jetztzeit viel organisierter, bürokratischer und lehrerhafter.
Eines Tages, ich hatte gerade eine Biostunde angefangen, riss Ingo die Tür auf. „Du musst sofort mitkommen, ich habe einen Anruf von Herrn R.“ Herr R. war der Direktor einer Schule im Osten Halle- Neustadts, Nahe der Feuerwache. Unsere Schuler nutzten dort im Fach Wirtschaft die Küche, weil wir selbst keine hatten. Ingo hatte schon eine Vertretung für mich im Schlepptau. Wir liefen eiligst zu seinem Trabant und meine erste Frage war: „Worum geht’s?“ „Die 10d“, zischte er und sein Blick verfinsterte sich. Ich ahnte Schlimmes. In der 10d befanden sich ein Grüppchen von 6-8 Jungen, die stark rechts eingestellt waren und die hatten heute Wirtschaft in der Schule von Herrn R. „Wir müssen die abfangen und zu uns zurückbringen.“

Kaum waren wir angekommen, bot sich uns ein seltsames Bild. Vor der Schule hatten sich mehrere (es waren mindestens 80) Schüler aufgestellt, mit Knüppeln bewaffnet. An verschiedenen Ecken standen Fotografen und warteten auf das, was da kommen würde. Polizei ward nicht gesehen. Ingo bahnte sich einen Weg zum Direktor, der hilflos in der Eingangstür stand und nicht wusste, was er machen sollte. Ich stand vor den Massen und war entsetzt. Die Gesichter sagten nichts Gutes aus. Endlich erblickte ich einen Jungen, den ich vom Schulclub her kannte. Ich ging auf ihn zu. „Worum geht es hier?“ „Die rechte Sau Stephan hat gestern die Mutter von ihm hier“, er deutete auf seinen Nachbarn, „dafür wird er büßen.“ „Wie jetzt zusammengeschlagen?“, bohrte ich. Es stellte sich heraus, dass es tatsächlich am Abend zuvor eine Auseinandersetzung mit der rechten Gruppe gab. Das Zusammenschlagen der Mutter entpuppte sich allerdings als ein nicht gewollter Schlag von Stephan, weil die Frau unvermutet dazwischenging. „Ah ja und deswegen der ganze Pulk mit Knüppeln für einen Mann“, ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen. Inzwischen hatte sich eine ganze Gruppe um mich und meinen beiden „Gesprächspartnern“ gescharrt, die durcheinanderschrien. „Der hat ja noch seine Faschos mit…Die kriegen eine auf die Labbe… Totschlagen das Gesocks…“ Es herrschte eine brodelnde, gefährliche Stimmung. Jeden Moment konnte auch die Jungensgruppe der 10 d auftauchen. Sie ahnten noch nichts von dem, was hier abging. Ingo kam dazu. „Nun beruhigt euch mal, ihr könnt hier nicht Krieg spielen.“, mahnte er. Vor ihm baute sich ein Typ mit einem riesen Knüppel auf. „Sagt wer?“ Warum ich daraufhin dem Typen den Knüppel wegkickte, weiß ich nicht, aber seltsamerweise wachse ich bei brenzligen Situationen über mich heraus. Das war schon in meiner Jugend so, als mich in der achten Klasse zwei Typen auf den Kicker hatten, mir nachstellten und auch mal ins Gesicht schlugen. Solange ich flüchten konnte war alles gut, bis auf das eine Mal, als sie mich auf dem Schulhof in eine Ecke gegen einen Holzzaun drängelten. Da war kein ausweichen möglich. In meiner aufkommenden Wut, bei der die Angst völlig von mir wich, brach ich eine Latte aus dem Zaun und schlug die Beiden in die Flucht. Dabei hatten sie noch Riesenschwein, da in der Latte noch 80iger Nägel steckten. Zum Glück hielt ich in der Raserei die Latte verkehrt herum. Seit diesem Tag gingen sie mir tunlichst aus dem Weg.

Der Typ, nun ohne Knüppel, starrte mich fassungslos an. Ich schaute ihm lange in die Augen und sagte ganz langsam und ruhig: „So jetzt lässt sich‘s vernünftig reden.“ Dann drehte ich mich zu dem Pulk und rief laut: „Ich schlage vor wir klären das in meinem Schulclub in aller Ruhe. Da kommen die Leute, die es betrifft und du“, ich zeigte auf den knüppellosen Typen, der immer noch vor sich hinstarrte, „dann der Stephan und da kotzen wir uns aus. Das was ihr hier veranstalten wollt, hilft niemanden, ist feige und hat auch bittere Konsequenzen. Und die Reporter“, ich sprach jetzt extra laut, schrie schon fast, „scheren sich keinen Deut um euch, die wollen nur ihre Story. Das ist genauso Schwachsinn.“ Ingo unterstützte mich, hielt auch eine kleine Rede und wir hatten uns nach einigem Hin und Her geeinigt. Der Pulk strömte langsam ins Schulhaus zurück, die Knüppel flogen in die Büsche, die Reporter sahen ein, dass hier nichts mehr zu holen war, als plötzlich unsere rechte Gruppe auftauchte. Ich begab mich sofort zu ihnen. Sie hatten aber die Situation schon gecheckt. ich sagte ihnen, was wir mit den Schülern vereinbart hatten und sie stimmten sichtlich erleichtern zu, natürlich nicht ohne ein paar blöde Bemerkungen über Zecken. Die Sache war erledigt, dachte ich, als plötzlich aus dem Nichts der Achte im Bunde um die Ecke bog und laut schrie: „Nieder mit den Zecken.“ Der Typ war einfach betrunken und kam deshalb zu spät. Mit einem gewaltigen blitzschnellen Lauf, den ich mir selbst nicht zugetraut hätte, lief ich auf den wild gestikulierenden Typen zu, riss ihn zu Boden, nahm ihm am Hals, hob die Faust und flüsterte ihm rasend vor Wut ganz nah ins Gesicht: „Solltest du nur ein Wort sagen, mache ich dich fertig. Atme nicht mal laut“ Seine Gruppe sammelte ihren völlig verwirrten Genossen auf und wir gingen gemeinsam zur Straßenbahn. Ingo hatte mich im Hintergrund abgesichert und ein paar Restschüler die erstaunt die Szene betrachten, auf Abstand gehalten. Meine rechte Gruppe war recht schweigsam und Stephan bezahlte mir die Fahrt zu unserer Schule. Im Schulclub verbrachten wir noch die Restzeit bis zur nächsten Stunde. Ich gab eine Cola aus und man setzte mich von den ganzen Vorfällen am Vortag in Kenntnis. Ich war erleichtert. Erst viel später wurde mir der ganze Ernst der Lage bewusst, als ich schweigsam allein im Schulclub saß und eine rauchte. Ich glaube, ich habe noch die nachfolgende Stunde einfach geschwänzt. Aber das war mir in diesem Moment völlig egal.

Epilog
Zu einer Aussprache kam es im engeren Sinne nie, aber man besuchte mich ab und an. Das war schon seltsam, Zecken und Rechte zusammen in einem Gespräch, aber das sollte ich noch des Öfteren erleben.

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