Der Schulclub der Heine Schule war Anlaufstelle für viele Schüler aus der Umgebung. Wir hatten dort Spielautomaten, einen Kraftsportraum, einen Tischtennisraum und eine Art Treffpunkt mit Ausschank. Natürlich gab es dort nur nichtalkoholische Getränke. Man saß gemütlich beisammen, in der Woche meist bis 16:00 oder 17:00 Uhr. In den großen Pausen war der Schulclub für alle Schüler geöffnet und man verpflegte sich dort.
So war es auch an diesem Donnerstagnachmittag gegen 17:00 Uhr. Unter den anwesenden Schüler war ein Typ, nennen wir ihn Chris, groß, schlank, gutgebaut und ein rechter Mädchenschwarm. Er war in meinen Augen ein arroganter und überheblicher Kerl, der meist mehrere Freundinnen hatte und sie mit einander nach Strich und Faden betrog. Man hätte beinah neidisch sein können, sein Charakter war aber anerkannt fies. Die Mädels erfuhren seine Fremdgeherei zwar, aber einige schienen ein ausgesprochenes Kurzzeitgedächtnis zu haben, da es ihnen bald darauf wieder entfallen war und sie ihn wieder anschmachteten. Doch ich verschwendete an diesem Tag keine Gedanken an den Typ, da ich mit dem Aufräumen beschäftigt war. Ich wollte nun endlich auch nach Hause. Langsam leerte sich der Schulclub und auch Chris ging mit einem Kumpel ohne Auf-Wiedersehen zu sagen. Aber das kannte ich von ihm.
Am nächsten Tag erfuhr ich, das eben jener Chris auf der B80 tödlich verunglückt war. Im Schulclub herrschte an diesem Tag Trauer. Mädchen heulten sich die Augen aus und schimpften auf die Schlampe, die ihn überfahren hatte. Ich erfuhr, dass die Frau alkoholisiert gewesen sein sollte und Chris keine Chance hatte zu entkommen. Irgendwann tauchten Bildzeitungsleute im Club auf und wollten die Gruppe interviewen. Als sie im Club fotografieren wollten, lehnte ich ab. Man zog wieder ab, aber nicht ohne, dass ihnen eine Gruppe Jugendlicher folgte. Zwei Tage später stand ein Artikel in der Zeitung über den tragischen Tod eines jungen Menschen, der von einer alkoholkranken Frau überfahren wurde. Auf dem Bild über dem Text in großer fast schreiender Aufmachung knieten weinend ein paar Mädchen mit Blumen und drumherum standen seine Freunde. Das besonders traurige Mädchen in der Bildmitte sollte seine Freundin sein, mit der er angeblich Zukunftspläne schmiedete. Ich war erstaunt, da ich das Mädel kannte. Die sogenannte Freundin war zufällig am Fototag im Club. Eigentlich mochte sie Chris nicht einmal, weil er ihre Freundin schamlos ausnutzte. Das hatte sie mir höchstselbst ein paar Wochen davor gesagt. Ein paar andere Typen auf dem Bild hatten mit Chris gar nichts am Hut, weil er ihnen die Mädels ausspannte. Da ich die Bild-Zeitung sowieso nicht mochte und ihre verdrehende Berichtserstattung schon am eigenen Leibe erlebte, versuchte ich in den folgenden Tagen durch Gespräche herauszubekommen, was wirklich geschehen war.
Nach und nach stellte sich ein ganz anderes Bild dar. Chris war nach dem Besuch des Clubs mit seinem Freund in Richtung B80 gelaufen, sie wollten noch abhängen, hatten sich Bier gekauft. Meist gingen sie zu den Kleinen Teichen. Da sie schon einige Bier auf dem Wege dahin intus hatten, entschloss sich Chris zu einer Mutprobe. Er wollte die B80 nicht über die Brücke überqueren, sondern lief einfach über die Fahrbahn drüber, obwohl Feierabendverkehr herrschte. Die junge Frau am Steuer hatte keine Chance. Sie fuhr die erlaubten 100 km/h, war sogar noch darunter, als in der Dämmerung ein sich drehender und bierschwenkender junger Mann urplötzlich auftauchte. Obwohl sie sofort in die Eisen ging, erwischte sie Chris schlimm. Er verstarb wenig später an seinen Verletzungen. Seine Selbstüberschätzung brachte ihm den Tod und der jungen Frau einen Amoklauf durch die Presse. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch, wurde beschimpft und wurde ihres Lebens nicht mehr froh, schon allein durch den mies recherchierten Artikel.
Trauer empfand ich schon, aber tatsächlich mehr für die Frau, deren Leben zwar weiterging, aber mit riesigen Schuldgefühlen und falschen Anschuldigungen. Ein Woche später tauchte auch die beste Freundin im Schulclub auf und knutschte mit einem weiteren Zukunftsplan wild herum. Wer war doch gleich Chris?