Auch als Podcast hier vorhanden…
Darf ich vorstellen Lothar. Ein rundlicher Typ, ein fantasievoller Typ, dem es immer wieder gelingt, in den Himmel aufzusteigen und eine Bruchlandung auf dem Boden zu machen. Bildlich gesprochen. Lothar wachsen manchmal eine Art Engelsflügel, die für andere Menschen wunderbar und praktisch sind. Ein wenig zupfen hier, ein wenig zupfen da und schon kann Lothar ein wenig steigen, aber auch schnell fallen. Bildlich gesprochen. Lothar macht bei einem Kreativverein mit. Dort gibt es so etwas wie aktive Freizeitgestaltung, also ein wenig hier und etwas da. Und da gerade keine so richtige Jahreszeit ist, sondern Corona, machen alle nicht viel. Verheiratet ist Lothar auch, schon seit Urzeiten. Mit seiner Frau und nicht ganz so lange mit Helena, seinem Computer. Und Lothar hat Ideen, ganze Wagenladungen voll. Die meisten liegen irgendwo herum und verbringen ihren Lebensabend in Schubladen oder lümmeln sich auf der Festplatte. Einige Ideen macht er mit der erwähnten Truppe. Die müssen sich die ganzen Sachen anhören, sind dafür oder verdrehen die Augen, stimmen lächelnd zu und lassen ihn machen oder helfen mit. So lebt es sich ganz gut in der Truppe. Das hätte bis zum Ende aller Tage weitergehen können, wenn Lothars Kopf nicht wieder mal so eine komische Idee ausgebrütet hätte, die verwegener war, als der sagenumwobene Ikarus. Der kam bekanntlich der Sonne zu nah und stürzte.
Daran dachte Lothar nicht beim Brüten, also beim Brüten der Idee. Immerhin die Weihnachtszeit stand kurz bevor und durch die erwähnte Pandemie war draußen nichts los, außer den vereinzelten Menschen mit Maske. Also dachte sich Lothar mal einen besonderen Weihnachtskalender aus. Er wollte jeden Tag per Internet ein Rätsel der Truppe schicken, die die Mitglieder lösen konnten. Dabei sollte es Punkte geben und am Ende für den Sieger eine Überraschung. Er überschlief die Sache, fand die Idee gut und hatte keine Ahnung von dem, was ihm bevorstand. Aber das wissen Menschen, die erst ein laues Lüftchen spüren auch nicht, wenn ihnen kurz darauf ein Sturm um die Ohren bläst und sie noch ein wenig später ihr Häuschen im Wirbelsturm verschwinden sehen. Nun ja, ein Wirbelsturm sollte es nicht werden, eine Katastrophe schon. Aber das wusste Lothar noch nicht und seine Truppe war guter Dinge, als sie von dem Plan erfuhren. Rätseln, Punkte, Klasse Idee. Also ging Lother frisch, fromm, fröhlich und frei ans Werk, programmierte über seine Internetseite das erste Rätsel, klopfte sich auf die Schulter und war zufrieden.
Bevor wir mit der Geschichte weitergehen, sollte der geneigte Leser wissen, dass Lothars Truppe aus seiner Frau besteht, also die, mit der er seit Urzeiten verheiratet ist und einer zusammengewürfelten Patchworkfamilie samt Anhang und Freunde. Also wie ein Clan im Fernsehen, aber weder schottisch noch arabisch. Schon deswegen begann ein laues Lüftchen zu wehen, aber noch spürte es keiner.
So öffnete sich am ersten Dezember das erste Türchen und alle machten sich ans Werk, um zu rätseln und ihre Punkte zu sammeln. Aber kaum geöffnet ging es schon los. Das Rätsel hatte mit Lothar zu tun und noch ganz leise und zart kam ein Pflänzchen ans Tageslicht, das den wunderschönen Namen „Bedenken“ hatte. Wie konnte man auch etwas übers Leben wissen und die 10 Fragen lösen? Trotzdem versuchten sich die Kreativen des Kreativvereins. Es war erst einmal für die nächsten Tage eine Art Beschäftigung, man rätselte so vor sich hin. Lothar konnte sich seine Flügel wachsen lassen und sonnte sich im strahlenden Lichte seiner Fantasie. Doch wie das so ist mit zarten Pflänzchen, sie wachsen heran. Im Laufe der nächsten Tage bekam er verdächtige Hinweise, wie er doch dieses oder jenes besser machen könnte. Außerdem ginge es gar nicht, dass er plötzlich auch mal Sonderpunkte irgendjemand gab. War das denn rechtens? In der Patchworkfamilie fing man an, vom Einzelnen zu einem ausgemachten Clanverhalten überzugehen. Man nannte die gegenseitige Hilfe. Das war anfangs gar nicht immer gleich klar. Eine der Frauen arbeitet mit ihrer Tochter zusammen, die plötzlich ein wenig aufmuckte, weil sie ein Rätsel eigentlich alleine löste und die Mutter die Punkte einheimste. Doch irgendwie, mit welchen Mittel auch immer, einigten beide sich und liefen fortan als Team. Lothar grinste ob diesem Treiben und merkte gar nicht, dass aus dem lauen Lüftchen jetzt etwas Wind wurde.
Seine Frau, begann schon ein wenig zu meutern: „Die lösen alles zusammen. Ich mache es alleine.“ Eine WhatsApp erreichte ihn, wo sich über die Dissonanz der Punktevergabe ausgelassen wurde. Das Pflänzchen „Bedenken“ bekam langsam einen Stamm. An den folgenden Tagen wurden die Rätsel gelöst, die WhatsApp Nachrichten mehr und man griff aktiv in die Punktevergabe ein. Der Wind entwickelte sich zunehmend. Aus der Rätselei begann bitterer Ernst zu werden, doch noch hatte Lothar die Kontrolle. Doch zunehmend musste er seine Engelsflügel beschützen, die ein wenig weniger zu wachsen schienen.
Lothar stand morgens vor dem Hahnenkrähen auf und suchte sich überall die Rätsel heraus, kaufte sich sogar ein Buch, denn die Truppe kämpfte verbissen um ihre Punkte, benutzte das Internet, beriet sich, lamentierte über schwere Rätsel, eine konnte nicht zur Arbeit gehen, Zeit hatte ohnehin keiner, und überhaupt war es viel zu viel Text. Manchmal dachte sich Lothar 10 Fragen auf einmal auf und man hörte das Stöhnen, ob dieser gewaltigen Menge durch das ganze Dorf. Zwischendurch wurde für einen Moment ein anderes Rätsel auf WhatsApp mit in die Truppe eingeschoben, an dem sich der Clan untereinander etwas verbiss. Man konnte sich nicht einigen, ob das richtige nun falsch oder das falsche richtig war oder das Richtige nur falsch formuliert war. Es war verwirrend. In der WhatsApp-Gruppe wurden Informationen ausgetauscht jeder gab seinen Kommentar und die, die nicht weiterwussten, gaben irgendwelche Smileys. Kurzum, die Kommentare wurden verbissener, jeder wollte ein wenig und insbesondere sowieso recht haben. Der Sturm begann verdächtig größer zu werden, der Himmel zog sich mit Wolken zu. Lothars Federn lösten sich langsam aber sicher auf. Jetzt begann sich in Lothar Widerstand zu regen. Er versuchte zu beweisen, was nicht bewiesen werden sollte und ein scharfer Wind blies ihm um die Ohren. In wissenschaftlichen Kreisen nennt man das Altersstarrsinn. Damit war er ja jedoch nicht alleine.
Des Weiteren bemerkte er, dass man sich nicht nur untereinander austauschte, sondern gleich mal die Lösung eines anderen präsentierte. Die zu vergebenen Punkte gerieten in höchste Gefahr. Sein weihnachtliches Leben war plötzlich bedroht. Das konnte sich Lothar nicht bieten lassen. Schließlich war er der ausschließliche Punkteschiedsrichter. Dieses gnadenlose Vergehen ließ nun auch den Clan bröckeln. Es war zwar nur ein Spiel, aber mittlerweile hing daran die Stabilität der Truppe, des Weihnachtsfests und vielleicht der ganzen Welt dran. Verbissen arbeitete Lothar weiter an seinen Rätseleien, es ging langsam aber sicher auf das letzte Türchen zu. Mit den Lösungen der Truppe kamen immer weitere Beschwerde-nachrichten. Er solle doch nicht so lange Rätsel machen, es sind Kinder dabei, die nicht so viel wissen können, man kann mit dem Zeug doch nicht seinen ganzen Tag verbringen und überhaupt, die Punktevergabe sei eigentlich ganz mies. Lothar schrieb darauf einen langen Text, den ohnehin keiner las, weil er eben viel zu lang war und niemand den tieferen Sinn verstand, geschweige denn seinen ausgeklügelten pädagogischen Ansatz.
Schließlich ging es um den Spaß des ganzen Kreativvereins und nicht um seine Reflexionen, Gedanken und schon gar nicht um sein alleiniges Vergnügen. So weit kommt es noch. Das musste mal gesagt werden. Letztendlich sollte Lothar als Macher nun wirklich auch ein wenig Kritik verstehen. Seine Rätsel sind jedoch mal zu schwierig oder zu groß oder zu leicht oder man kennt sie, wie auch immer und welcher Tag nun gerade war. Basta!
Der Himmel verdunkelte sich, der Sturm kam näher. Lothars Frau hatte plötzlich keine Lust mehr, einige andere hatten keinen Bock auf die weiteren Rätsel, wiederum andere zerpflückten seine Rätsel, stellten die Antworten infrage und drohten offen mit der Verweigerung des Weihnachtsfests.
Aus Lothars Flügel begannen sich weitere Federn zu lösen, aus der Pflanze „Bedenken“ war ein beachtlicher Baum geworden, der nahende Wirbelsturm stand unmittelbar bevor.
Lothar saß weiter mit grimmigem Gesicht vor Helena, hämmerte die nächsten Rätsel hinein und war sich sicher, wieder einiges falsch zu machen. Seine Truppe faselte etwas von „er solle nicht alles auf sich beziehen und endlich die Punkte besser vergeben“. Inzwischen machte der Clan alles gemeinsam und alle bekamen dieselben Punkte. Das Kampfniveau des Einzelnen sank auf null. Schließlich ist man eine Familie und hilft sich, wie beim Abwasch und beim Reinemachen. Einer führt aus und die anderen schauen zu und freuen sich ihres Lebens. Lothar trug schon apathisch beim Einreichen der Lösung eines Einzelnen, für alle, die Punkte mit ein und musste sich nicht die Mühe des Kontrollierens machen. Die WhatsApp Nachrichten nahm er nicht zur Kenntnis, er rasierte sich kaum noch und jedes Türchen kostet ihm inzwischen ein, zwei oder mehr Kräuter.
Lothars Frau wurde es indes zu viel. Sie zog aus, wollte gemütliche Weihnachten haben. Zu ihrer Mutter, die Lothar ohnehin schon ein ewiges Rätsel war, sodass für ihn keine neue Situation bestand. Rätsel ist schließlich Rätsel.
Das letzte Türchen hatte er inzwischen programmiert, als der Wirbelsturm mit Macht zuschlug. Es war einen Tag vor Weihnachten und er streute sein letztes romantisches Rätsel unter die Truppe. Mit verheerenden Folgen. Ob er denn nicht wüsste, dass man zu Weihnachten so viel zu tun hätte, ob denn so ein großes Rätsel sein müsse, ob den Weihnachten nicht ein besinnlich ist, statt eines Rätsels, dass niemand lösen könne, ob denn das Rätsel so schwer sein müsse, dass alle sich die Gehirnwindungen verengten und die Weihnachtsgans im Ofen verschmorte. Das wäre doch ohnehin nur Quatsch, maulte die eine, die andere schrie, weil sie zu wenig Punkte hatte, obwohl man doch alles zusammen machte und überhaupt war die Idee nur eine Zeitverschwendung. Natürlich hatte man dies alles nicht so gemeint und nur der Stress war daran schuld. Lothar nahm dies alles sehr sachlich zur Kenntnis. Er kippte die Milch für den Weihnachtsmann in den Ausguss, räumte die Wohnung ein wenig auf, schaltet Helena ab, nicht ohne den Bildschirm mit einem Lächeln zu streicheln und eine letzte WhatsApp an alle zuschicken.
„Des Rätsels Ende hab‘ ich nicht geschafft.“ Dann schnallte er seine Flügel ab, dachte daran, wie er als kleiner Junge mal aus dem Fenster in Parttere sprang, stellte sich auf die Fensterbank und sprang wieder mal, diesmal aus dem fünften Stock.
Seine Truppe las seine WhatsApp, erinnerte sich der vielen Rätsel, die doch eigentlich so schlecht nicht waren und irgendwie ein wenig Spaß gemacht hatten. Lothars Selbstmitleid wurde belächelt, man ja gewohnt. Die Truppe beschloss sich dem Weihnachtsfest in der Familie zu widmen, dass wie jedes Jahr voll mit guten Vorsätzen, vielen Puten und Enten war, lustigen Gesprächen und freute sich der Dinge, die kommen oder schon vergangen war. Dass plötzlich überall Federn auftauchten, war eigentlich komisch, aber wer weiß schon, was in der Welt passiert.
Lothars Flug war kurz. Er wunderte sich, dass er den Aufprall nicht fühlte. Wie sollte das auch gehen? Schließlich war er ja tot. Seltsam fühlte sich nur so ein komischer Druck auf seinem Bauch an. Da waren auch noch die Haare in seinem Gesicht, die nicht ihm gehörten. Er schreckte hoch und sah Cameo, seinen Kater, der ihn anmauzte. Irritiert blickte er sich um. Es sah weder nach den berühmten Himmeln voller Geigen, noch nach der Hölle mit Fegefeuer aus. Die Tür öffnete sich. Seine Frau stand im Schlafzimmer. „Los aufstehen, Frühstück ist fertig. Du musst das erste Rätsel noch machen.“ Lothar sah auf die Uhr an der Wand. Dort prangte in digitaler Leuchtschrift: 01.12.2020 6:25 Uhr. Das Telefon an seinem Kopfende meldete sich mit der „Jingle Bells“ Melodie, das Erkennungszeichen für die Truppe. In den WhatsApp Nachrichten kam die Meldung: „Wir sind gespannt auf die Rätsel.“
Lothars Frau öffnete das Fenster und ein ganz feiner Wind blies Lothar ins Gesicht. Von irgendwoher trieb eine Feder am Fenster vorbei.